Suchergebnisse für 'texte'

"Ich habe Euch die Ideologie gelehrt" » Das Tour-Interview mit Phillip Boa

Boa-Tour-Interview

Einen schönen neuen, dunkelbraunen Pullover habe ich mir gekauft. Dazu ein rotes Poloshirt. Meine Kombination für diesen Winter. In Rostock lässt es sich gut einkaufen. Schnell die Einkaufstüten wegstopfen, ab durch die Mitte, an den Häuserblocks vorbei und zum kalten Hafen eilen. Es ist spät. Doch bevor ich richtig unruhig werde, höre ich schon von Weitem bekannte und entspannende Töne: „Intrigue and romance“ dröhnt über das Rostocker Warnowufer. Holterdiepolter, da stehe ich auch schon im MAU-Club. Um mich herum wuseln die netten Jungs von Timid Tiger und schleppen hübsch fleißig ihre Instrumente aus dem Auto heraus, auf der Bühne wird kräftig geprobt, dazu eine Tasse Kaffee. „Vielleicht hört man Dich nicht, weil Du das Mikro zu sehr in Deine Faust einschließt?!“ fragt Pia. „Quatsch, das mache ich immer so.“ flätzt Herr Boa zurück.

Hüstle, hüstle. Phillip ist krank. Aber ich bekomme trotzdem ein Interview, als Einziger. Mit, vor Ehre geschwollener Brust trotte ich hinter Herrn Boa her – ab in die Bandgarderobe. Pia kocht süß-blonden Kaffee für uns. Erinnert mich irgendwie alles an „Unsere kleine Farm“. Vor dem obligatorischen Frage-Antwort-Spiel erzählt Phillip, während des Nudelessens ein bisschen vom Tourleben: „Es ist sehr, sehr anstrengend immer wieder auf Tour zu gehen. Es ist wie eine Sucht. In dem Augenblick, in dem man auf der Bühne steht ist es sehr schön. Wenn man dann ein distanziertes Publikum hat, ist es anfänglich etwas Arbeit. In Erlangen oder Bielefeld war es beispielsweise so. Man spürt eine Distanz zwischen dem Publikum und der Band. Da muss man sehr kämpfen und die Leute konvertieren und überzeugen. Das gelingt uns eigentlich immer sehr gut.“

Recht hat er. Fast jeden Tag in einer anderen Stadt, die Nacht auf der Autobahn und am Abend ein Konzert. Für einen Außenstehenden klingt das wie ein Rausch. Ist das Touren eine Art Trance oder nimmt man alles sehr bewusst wahr, sind die Abläufe routiniert? „Nein, nein“ schmatzt Boa. „Man verfällt meistens in eine Trance. Man steht morgens meistens früh auf und fährt dann 500 bis 600 Kilometer mit dem Auto oder dem Bus. Das ist teilweise sehr schwierig. Man kann das eigentlich nur ertragen, wenn man sich in Trance versetzt. Toett und ich reden zum Beispiel absurden genialen Blödsinn, einfach um weiter Spaß zu haben. Letztendlich leben aber alle nur für ein Ziel: Abends auf der Bühne zu stehen und die Songs – insbesondere auch die neuen Sachen – möglichst genial zu spielen und den Leuten die Tiefe, die Essenz der Songs zu präsentieren. Das funktioniert hervorragend. Ich bin echt überrascht, wie gut die neuen Songs aufgenommen werden – insbesondere 5 bis 6 davon. Zum Teil schon wie echte Klassiker.“
Wie wahr, wie wahr. Das Album wurde ja auch insgesamt sehr gut aufgenommen. Die Fans sind begeistert, die Kritik größtenteils auch… „Nur der scheiß Musikexpress nicht. Das hat mich geärgert. Den Schreiber kenne ich von früher, der soll mir lieber nicht begegnen. Das kannst Du ruhig schreiben.“ brummt Boa und schiebt seinen Nudelteller beiseite.

Amüsiert schiebe ich Boa mein Mikrofon unter die Nase und stochere weiter im „Decadence & Isolation“-Sud herum. Wie sich die neuen Songs – drei Monate nach Album-Veröffentlichung und etlichem Livespielen – so anfühlen, will ich wissen. „Es ist absolut bizarr. Man hat dieses Songs im Studio eingespielt und dann präsentiert man sie live – das ist total spannend. Anfänglich ist man hyper-nervös, weil man nicht weiß, ob man vielleicht Fehler macht oder wie die Songs sich auf die Leute übertragen, ob das Ganze funktioniert. Bei einigen merkt man, dass sie sofort funktionieren, wie ‚Burn all the flags’ oder ‚Decadence & Isolation’. Unsicher bin ich bei meinem Lieblingssong vom Album: ‚Intrigue & romance’. Den spielen wir als Zugabe. Da bin ich mir nicht sicher wie die Reaktionen sind, da das kein Song zum Pogotanzen oder Moshen ist. Es ist mehr ein Song zum Hören. Aber wir spielen ihn auf jeden Fall bis zum bitteren Ende weiter, denn wir glauben an dieses Lied.“ interveniert der Anti-Guru und hustet wieder einmal voller Inbrunst in seine schwarze BOA-Fanjacke hinein.

Wir reden über die neue Single. Ich erzähle Boa, dass viele Fans die Bonussongs sehr mögen, da sie die Schrägheit haben, die dem Album teilweise fehlte. Mich interessiert wann diese Songs aufgenommen wurden. Phillip grinst über beide Backen: „Das ist eine sehr interessante Sache. Meiner Meinung nach stammt ‚Bamboo Kid’ aus der Session von ‚The Red’. Das war ein Rough-Mix, der irgendwo in den Archiven von David Vella lag. Er war nicht so zuende produziert. Ich finde so etwas ja immer toll. Der andere Song – ‘Why we will never walk away’ – hieß erst anders. Der stammt aus der Session von ‚Decadence & Isolation’. ‚Lynn cried to the loard’ stammt auch aus der ‚The Red’-Session und ist ein klassischer MOTOR-Fauxpas, denn ‚Lynn’ wird mit doppeltem ‚n’ geschrieben und nicht mit ‚ne’, wie auf dem Cover abgedruckt. Ich hatten denen das auch korrekt gemailt, aber denen ist jetzt dieser Fehler passiert. Das hat mich ganz schön traurig gemacht, weil ich den Song eigentlich sehr mag. Aus der Session von ‚The Red’ gibt es unglaublich viele Lieder. Ich habe bestimmt noch zwei bis drei Lieder, die nicht veröffentlicht sind. Zwei habe ich gleich aufgegriffen und kürzlich mit David Vella weiterentwickelt. Es gibt trotzdem noch zwei weitere. Wir haben dem Produzenten Olaf Opal damals 20 Lieder gegeben und er hat sich 14 ausgesucht. Deshalb waren da immer noch 6 ganz gute Rough-Mixe übrig. Aus diesem Fundus stammen also die beiden Bonustracks. Ich finde so etwas immer total interessant: Extra B-Seiten, die absolut natürlich entstanden sind, ohne dass sich jemand ideologisch oder analytisch damit befasst hat. Ich habe noch den Vorschlag gemacht bei iTunes oder Musicload den Sven Meyer-Mix von ‚Have you ever been afraid’ anzubieten. Das wäre eigentlich meine Single gewesen. Leider ist das vergessen worden. Jetzt gibt’s das Lied eben als Download. Ich mag es, wenn die Leute sich hin und wieder etwas runterladen können. Wer sich darüber beschwert, wird diese Songs eines Tages sicherlich auf irgendeiner CD mit größerer Kapazität wiederentdecken.“

Neben seiner Liebe zu ungebändigten Rohproduktionen sinniert Herr Boa ja auch immer wieder öffentlich über sein entgültiges Ende als aktiver Musiker. Wenn es wirklich einmal entgültig vorbei sein sollte und dann irgendwann mal der Moment kommt, in dem er normalerweise zur Gitarre gegriffen hätte – Was tut Phillip Boa dann? Der Befragte lehnt sich im Sessel zurück und nach einigem boa-typischen Rumgedruckse gibt er zu: „Ich befasse mich sehr oft mit dem Gedanken mit der Musik aufzuhören. Eigentlich täglich. Aber wenn ich meine deutsche Konkurrenz analysiere, stelle ich mir einfach die Frage, warum ich aufhören sollte. Oft sind es nur Kopien von anderen Bands: Eine Depeche Mode-Kopie, eine Tocotronic-Kopie, eine Nirvana-Kopie, eine Nena-Kopie, eine Irgendwas-Kopie. Das gibt mir den Mut zu sagen: ‚Hey, ich habe das alles miterfunden hier in Deutschland, ich habe Euch die Ideologie gelehrt und ich lehre Euch das zu tun, was Ihr wollt!’ .Ich sehe zu wenig relevante Individuen, die ihr Ding wirklich bis zum bitteren Ende durchziehen. Das bringt mich zu dem Schluss, dass es erst einmal keinen Grund gibt aufzuhören. Das ist die positive Seite. Aber manchmal habe ich eben auch Selbstzweifel.“

Ist das Erleben und Durchleben dieser Selbstzweifel nicht auch Ventil für künstlerische Arbeit? „Ja, Du hast ein Konzert wie in Bielefeld und fängst an zu zweifeln. Es sind zu wenig und auch nur schwer zu überzeugende Leute da gewesen. Da falle ich im Hotelzimmer sehr schnell in Depressionen. Einen Tag später gibt es dann – wie beispielsweise in Köln – ein ausverkauftes Konzert, bei dem mehr Leute sind, als bei den Köln-Konzerten in den Vorjahren und alles ist fantastisch. Plötzlich denkt man wieder anders. In dem Kreislauf geht das immer weiter.“

Ich erzähle Phillip aus meiner jüngsten Jugend, den Musiksendungen im Fernsehen und die Identifikation mit den Rockstars aus der Flimmerkiste. Als Kind und Jugendlicher hat jeder seine persönlichen Idole und Vorbilder. Meines beispielsweise war – und ja, es ist peinlich – Klaus Meine von den SCORPIONS. Aber mal ernsthaft: Jeder war schon einmal ein ganz Großer vor dem eigenen Schlafzimmerspiegel. „15 minutes of fame“, wie Karl Bartos das einst nannte. Hat auch ein Phillip Boa sich via Matschscheiben-Rock’n’Rollern mit klassischen Rockstar-Image identifiziert? „Ich habe mich schon in Kindesjahren mit Musik beschäftigt. Deswegen hat sich diese Analyse am Anfang nicht gestellt. Man hat in den Spiegel geguckt, seine Lieblingsmusik dabei gehört und das Ganze imitiert. Irgendwann wurde die Sache dann ernster. Da hat man sich wahrscheinlich auch mit dem Image beschäftigt. Ein paar Jahre vor Phillip Boa war das zum Teil vielleicht noch peinlich. Ich hatte damals eine Band die hieß Blendaxx. Das sollte eine Fehlfarben-Kopie sein. Da habe ich gelernt, wie man schlechte Texte schreibt. Aber das muss man auch mal machen. Dann hatte ich eine zweite Band namens Betamax. Die war elektronischer. Das ging mehr in Richtung Kraftwerk und Devo. Da war ich nicht so der Chef. Bei Blendaxx habe ich übrigens auch nicht selber gesungen. Bei Betamax habe ich viel gelernt. Das war eigentlich eine ganz gute Band.“

Von den Jugendsünden kommen wir zu einem musikalischen Zeitgenossen Boas: Paul Weller. Wir reden über ihn, sein neues Album und all die anderen Altersgenossen, die Phillip Boa den Mut und die Selbstsicherheit geben, auch außerhalb des klassischen Rockalters noch eine relevante und ernsthafte Rolle zu spielen. Wie gerne zitiert der B-Master da Lou Reed, David Bowie oder eben auch Paul Weller. Ob sich Boa jemals mit einem dieser Musiktitanen ausgetauscht hat, so ganz vis-a-vis?! Ich frage nach…
„Ich habe ganz früher einmal Paul Weller im Studio in England getroffen, ihn aber nicht angesprochen.“ sagt Phillip und sinkt, völlig in Gedanken verloren, in seinen Sessel.
„Das bringt in der Regel nichts. Wir haben übrigens den selben Agenten. Daher habe ich ihn kürzlich in einem Hotel in Köln getroffen. Ich habe ihm aber nicht gesagt, dass ich ein Musiker bin. Ich habe dann auch noch das falsche Bier bestellt, nämlich Weizenbier. Ich muss aber sagen, dass er eine super nette Band hatte und er als Typ ein absolut genialer Gentleman war. Ich habe versucht ihn nicht mit dem typischen oberflächlichen Blödsinn zu belästigen, den man Leute fragt, die Helden sind. Er war einfach cool und stand über den Dingen. Das hat mir total imponiert. Er war nicht arrogant, er hat uns Bier ausgegeben und er kann gute Geschichten erzählen. Er hat mit THE JAM eine der wichtigsten Bands überhaupt geschaffen. Ihn kennen zulernen war wirklich bizarr. Ich bin froh, dass ich ihm nicht gesagt habe dass ich Phillip Boa bin. Solche Begegnungen sind meistens sehr fruchtlos. Er trifft jeden Tag 10 Leute die ihn bewundern, ihn angreifen oder ihm auf irgendeiner Weise unnatürlich begegnen, weil die Rollenverteilung nicht eins zu eins ist. Das geht mir auch oft so. Paul verwaltet genau wie ich seinen Ruhm. Trotzdem konnte ich die nächsten zwei Nächte danach nicht schlafen, weil ich irgendwie doof aus dieser Geschichte heraus gegangen bin. Naja. Das war schon alles cool. Eine merkwürdige Begegnung, weil ich auch ein Fan bin. Aber als Typ hat er mir mit seiner Höflichkeit total imponiert. Man muss auch über Jahrzehnte hinweg lernen, Verständnis zu haben für die Leute.“

Ich muss lachen. Jaja, so geht’s dem gemeinen Boa-Fan auch. Unnahbarkeit, peinlich leere Gespräche und so. Mit den Jahren ist die einstige Independentwildsau aber auch zahmer geworden, ODER? „Du bekommst ja nicht alles mit.“ zwitschert Boa schmunzelnd.
Ja hey Herr Boa, die Fans wünschen sich auf Konzerten immer wieder alte oder selten gespielte Songs. Klar: Bei den Weihnachtskonzerten in Leipzig gibt es immer wieder besondere Schmuckstücke zu hören, aber trotzdem wird auch dort nicht auf die Klassiker und Gassenhauer verzichtet. Wie sieht es aus mit einem Konzert, bei dem wirklich ausschließlich eher unpopuläre beziehungsweise schwierigere und uneingängigere Songs kredenzt werden? „Ich könnte mir vorstellen mal Konzerte wie The Cure oder David Bowie zu machen. Also einfach nur mal Boaphenia spielen oder so. Allerdings stößt man damit einer Menge Leute vor den Kopf. Nur die Ultra-Hardcore-Fans wollen so etwas. Die meisten Leute, die zu den Konzerten kommen möchten beispielsweise „And then she kissed her“ hören, weil sie es für ihr Unterbewusstsein gerne haben möchten. Das sind unbewusste Wünsche, die einfach gefüttert werden. Ich war auch schon bei vielen Konzerten von älteren Künstlern und möchte auch – mal ganz salopp ausgedrückt – die Hits hören. Als Pia nicht dabei war haben wir zeitweise mal „Container love“ nicht gespielt und alleine das war schon ein Problem. Viele Fans die ich getroffen habe waren sehr enttäuscht. Man könnte Projekt mache. In einer Stadt könnte man ein paar Tage bleiben und versuchen ein Album komplett zu spielen und dann eben noch ein paar Lieder dazu. Das kann man aber nur in einer Stadt wie Berlin machen.“.

Wir sind gespannt. Apropro Konzerte: Ich erinnere mich noch an mein März-Interview, als Phillip von seiner Scheu vor Auslandauftritten erzählte. Der Organisationsaufwand sei doch immer sehr groß und oft auch waghalsig. Im März des nächsten Jahres gibt es nun überraschenderweise Voodoozauber in London?! „Das war gar nicht meine Idee. Dieser Garage-Club in London macht ab und zu etwas mit deutschen Indiebands. Die haben meinen Agenten angerufen und gefragt, ob wir nicht da spielen würden. Es gab wohl auch einige Anfragen von englischen Fans. Früher haben wir viel in England gespielt. In London war es immer gut. Da waren teilweise sogar 700 Leute. Es ist schon etwas Besonderes da zu spielen, denn dieses Land hat mich musikalisch wirklich sehr geprägt.“
Moritzbasteiatmosphäre in London und alle sind sie wieder mit dabei. Ich freue mich drauf. Nach soviel Wortgewalt zieht sich Herr Boa kurz zur Pullerpause zurück. Und ich? Alleine mit der wunderschönen Pia Lund. Was sagt man so einer Frau? Was möglichst Unpeinliches, müsste die Antwort lauten. Tja, das ist mir leider nicht gelungen. Ich habe ihr vorgeschwärmt, wie begeistert ich von ihrem – Backstage noch viel häufiger auftretendem – wunderbaren Lächeln und ihrer Rückkehr zum Voodooclub bin. Und was sagt Pia? „Ja, das mit dem Lächeln höre ich oft. Gestern beim Konzert hatte ich vor Freude sogar Tränen in den Augen.“ Wow. Das ist zu viel für mich. Ehrlich. Naja, inzwischen ist Phillip wieder da und hat 40 Exemplare der neuen Single auf den Tisch gelegt. Jeden Abend diese Unmengen an CDs signieren. „Wieder so eine MOTOR-Idee“ knurrt Boa. Die Schweinepriester. Ich helfe beim Ein- und Auspacken der signierten Cover, plaudere noch etwas und atme ein wenig von der kochend ruhelosen Luft ein, die mich umgibt. Ganz ehrlich: Der hört noch lange nicht auf, da bin ich mir sicher. Boa nimmt noch einen kräftigen Zug aus seiner Seltersflasche und ich trottet von dannen. Wie heißt es doch so schön? Image ist nichts, Durst ist alles. In diesem Sinne!

Daniel Jahn, November 2005
Foto © 2005 MOTOR Music (www.motor.de)
Text © 2005 DANIEL JAHN (daniel@medienkonverter.de)

9. Dezember 2005, 11:24 Uhr | | 11 Kommentare » | Weiterlesen »