Re-Mastered Tour – Interview: Phillip Boa und die pop-avantgardistische Verschwörungstheorie
Es ist Samstag, der 30. September. Sommer in Berlin. Vor dem Kesselhaus in der alten KulturBrauerei versammeln sich Leute in Voodooclub-Shirts in allen erdenklichen Farben. Phillip Boa ist wieder in der Stadt. Aber dieses mal nicht mit einem Jubiläumsprogramm und auch nicht als Promotiongig für ein neues Album. Nein, heute ist Retrospektive angesagt. Anlässlich der Wiederveröffentlichung der drei Alben „Copperfield“, „Hair“ und „Hispanola“ erfüllt Phillip Boa mit seinem Voodooclub lang gehegte Fanträume: Gespielt wird ein Set jenseits vom üblichen Best-Of. Perlen aus alten Zeiten. Die verschrobene Faszination der alten Tage soll heute wiedererweckt werden.
Wann hatte Boa die Idee zu diesem neuen wunderbaren Streich?
„Eigentlich hatte ich die Idee selbst nie, weil ich immer Angst davor habe das Buch zu öffnen und meine eigene Vergangenheit zu sehen. Man hat ja immer Pläne. Ich kann nicht jedes Jahr ein neues Album veröffentlichen. Das würde ich zwar gerne machen, es wäre strategisch aber nicht besonders klug. Die eigentliche Idee zu diesen speziellen Konzerten kam eigentlich von ein paar Fans, die mir diesen Vorschlag bei unserem Fanmeeting in der Leipziger Moritzbastei unterbreiteten. In dem Augenblick erschien mir das unglaublich logisch und sinnvoll. Ich musste dafür einen Anlass finden und da ich ohnehin Gespräche mit Universal darüber geführt habe, ein paar Alben wiederzuveröffentlichen, war der Anlass damit gegeben. Es ist ein bisschen so vermarktet worden, als sei das Album neu aufgenommen oder neu gemixt worden. Das stimmt nicht und das würde ich auch niemals tun. Ich würde die Originale nie angreifen. Sie klingen zwar ein wenig nach den 80ern und 90ern, allerdings sind sie durch die Musik selbst sehr individuell und eigenständig. Ich wollte die Originalalben einfach wieder erhältlich machen und auch vom Gesamtsound her etwas mehr in Richtung Jahr 2006 rücken. Fetter und lauter, so dass man gewisse Dinge einfach besser hört. Die ganzen verschollenen oder nur teuer über eBay erhältlichen B-Seiten und Raritäten kann man nun auch in besserem Sound auf diesen CDs finden, die fast wie eine Compilation aus der damaligen Zeit sind. Eine sehr liebevolle und aufwändige Arbeit an den Originalbändern.“
Vor einiger Zeit war immer wieder von Problemen mit Universal die Rede. Wie kam es zu der plötzlichen Wiederveröffentlichung der alten Alben?
„Ich hatte irgendwann mal von Universal das ‚Okay’ für die Wiederveröffentlichungen. Plötzlich gab es keinen Ärger mehr. Das waren alte politische Streitigkeiten aus der Zeit als Tim Renner noch ein bisschen enttäuscht war, dass ich Universal verlassen habe. Die CDs sind dann – mehr oder weniger mutwillig – aus dem Katalog gestrichen worden. Doch die Unruhen haben sich erst einmal erledigt. Man hat sich bei Universal sehr viel Mühe gegeben mit der Wiederaufarbeitung. Sie wollen auch noch mal 2 bis 3 Alben in der Art und Weise wiederauflegen. Ich denke da zum Beispiel an „Helios“, „Boaphenia“ oder die ersten beiden Alben. Das sind die Projekte, die demnächst anstehen. Ob es dann ebenfalls eine Livepräsentation der Alben geben wird, weiß ich jetzt noch nicht. Mir liegt sehr viel daran möglichst viele Alben wieder erhältlich zu machen. Wenigstens bis zum 94er Album „God“. Die anderen Alben danach sind sowieso theoretisch erhältlich.“
Als Boa beim Soundcheck „Andy W.“ ins Mikrofon brummte, musste ich an all die Erinnerungen denken, die ich mit diesem Lied verbinde. Hatte der Meister selbst auch emotionale Flashbacks beim Wühlen in den Metaphern der Vergangenheit?
„Diese Flashbacks, diese trümmerhaften Erinnerungen sind erst während des Probens – als man sich extrem mit diesen Liedern beschäftigt hat – aufgetreten. Man verliert nach und nach die Angst. Der Respekt vor diesen Songs ist groß. Sie sind ganz anders als die Pop- oder Rock-Musik von heute, sie sind wirklich Avantgarde. Selbst die Singles – die Leute haben sich nur einfach daran gewöhnt. Die Lieder sind wirklich einmalig. Ich kenne keinen Künstler der solche Musik macht. Natürlich hört man überall mal Einflüsse, aber trotzdem ist die Musik sehr eigenwillig und mutig. Mich macht das stolz. Ich weiß, dass ich kein Hype war und dass ich meinen Erfolg durch die Musik erlangt habe. Auf der anderen Seite bin ich verzweifelt, weil ich nicht weiß, wie ich jemals wieder so eine Musik erschaffen kann. Das ist merkwürdig. Man lebt ja auch in einer anderen Zeit.“
Kein Zweifel – Boa verstand es stets melodiöse populäre U-Musik mit anspruchsvoller avantgardistischer E-Musik zu verbinden…
„Richtig – und wenn Pop, dann spielen wir damit. Es sollte nie nur Avantgarde sein, sondern auch populär. Trotz aller Ungewöhnlichkeit sollte die Musik auch immer melodiös sein. Das war immer die Attitüde, vom ersten Ton von Phillip Boa & The Voodooclub an – die erste Mini-EP „Most boring world“ mal ausgenommen. Aber vom ersten Album an war das Konzept klar: Popmusik anzugreifen und mit ihr spielen. Das wurde dann auch honoriert, beispielsweise von der englischen Presse, die mir nun endlich wieder vorliegt. Ein verrückter Fan in Krefeld hat die ganze Garderobe mit alten Presseberichten vollgehängt. Die haben wir uns dann abgemacht. Egal was man über uns denkt: Die Musik ist anders und sie hat ihren Respekt verdient.“
Absolut! Boa-Alben sind im seltensten Fall Schnellzünder gewesen. Eine mehrmonatige Reinhör- und Festhörphase ist keine Seltenheit. Doch wenn sich Boas Indie-Avantgarde-Pop einmal im Gehörgang verkantet hat, steht einer langanhaltenden Voodoopassion nichts mehr im Wege. Der sonst so zweifelnde, haltsuchende Boa weiß wohl um die Anziehung seiner (Früh)werke…
„Die Alben haben eine unheimliche Magie. Ich glaube, dass diese erst in ungefähr 20 bis 30 Jahren erkannt werden wird. Auf den Konzerten sieht man wie irritiert die Leute und selbst wir sind. Es ist eine Art Zeitreise. Time-Machine. Aber es ist unglaublich cool das zu tun. Andererseits ist es auch eine unheimliche Qual, da es sehr schwierig ist, die Songs zu spielen und zu vermitteln. Seit dem dritten Konzert sind wir aber über diese komplizierte Phase hinweg. Es ist harmonisch geworden. Jetzt macht es Spaß die Leute zu irritieren und sie gleichzeitig dazu zu zwingen, sich mit den Liedern auseinander zu setzen. Oft sind die Leute ganz verwirrt am Ende des Sets die drei Singles oder Lieder wie „Albert is a headbanger“ oder „Fine art in silver“ mitten in diesen Konzepten zu hören. Das ist schon alles sehr cool.“
Und das alles ohne Promotiondruck?
„Es ist gar kein Promotiondruck dahinter. Das war auch von vornherein so geplant. Wir wollten die Alben selbst auch bewusst nahe dem Original belassen – kein neues Cover, keine neuen Fotos. Alles andere wäre Geschichtsfälschung.“
Außer Pia und Dir ist von der Ur-Besetzung des Voodooclubs niemand mehr übrig. Wie ist es nun für die Band, diese – für sie doch teilweise sehr fremden – Stücke zu spielen und zu interpretieren?
„Das war unglaublich schwierig für die Band. Eigentlich sind sie alle mehr oder weniger gute Musiker, aber sie müssen trotzdem bei vielen Liedern vom Blatt spielen. Das ist echt lustig. Ich komme mir manchmal vor wie Frank Zappa.“
Im Tourblog zur aktuellen Konzertreihe gab es hin und wieder kleine Handyfotos und Videosequenzen zu sehen, in denen Boa, Pia und der Voodooclub wie eine harmonische Familie im Sommerurlaub wirken. Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung im Hause Vooodooclan?
„Ich lege großen Wert darauf, dass meine Band mich unterstützt. Es ist keine Familie, aber es ist der Voodooclub… das ist einmalig… diese Band hat Hard-Core-Fans. Das sind keine Massen, aber sie sind verschworen. Das Ganze hat etwas Konspiratives. Phillip Boa & The Voodooclub ist eigentlich eine Verschwörungstheorie von Menschen, die alle ein bisschen verrückt sind und die akzeptieren, dass ich nicht korrupt bin. Man kann mich nicht kaufen. Ich verkaufe lieber ‚nur’ 15.000 Platten als mich selbst. Ich mache nur das was ich will. Die Leute schätzen das an mir. In einer immer korrupteren und immer heuchlerischer geprägten Gesellschaft bin ich nicht greifbar.“
Gut so. Er kämpft wie ein jugendlicher Rebell. Das hat viel Charme. Wir Fans danken es ihm. Apropos Fan… der fußballbegeisterte Phillip hat doch sicher die WM aktiv mitverfolgt?
„Das lies sich ja nicht verhindern. Aber ich fand es schon ganz gut. Deutschland fand ich cool. Costa Rica. Finnland hat nicht mitgespielt, oder? England. Frankreich habe ich auch unterstützt. Ich mag Italien als Land ja sehr gerne, aber dennoch fand ich es sehr schade, dass Frankreich verloren hat, weil ich auch zu einem Viertel selbst Franzose bin. Ich finde so Typen wie Zidane auch einfach unheimlich cool.“
Ist Boa selbst vielleicht der Zidane des Indie-Rocks? Wer weiß. Da bleibt am Ende nur noch Aussicht auf die Zukunft…
„Ich möchte weiter an meinem Backcatalouge arbeiten und vielleicht ein paar Konzerte machen, wo ich vielleicht zwei weitere Alben präsentiere. Parallel dazu möchte ich ohne Zeitdruck an einem Album arbeiten. Motor Music – mit denen ich mich gerade wieder vertragen habe – möchten mich allerdings schon unter Druck setzen. Aber ich habe mit Malta abgeschlossen und deswegen wird das Album auch anders klingen. Die mediterrane, mit „Boaphenia“ begonnene Phase ist beendet. Hat ja lange gedauert. Durch diese Tour habe ich eine Art Selbstbewusstsein bekommen, weil die Musik so einmalig ist. Als wir früher in der Presse hochgehalten wurden haben viele gesagt, dass wir nur Hype sind. Wenn ich mir die Musik heute aber anhöre, dann stelle ich fest, dass ich mich wie niemand anders anhöre. Ich verlange von jedem den Respekt davor. Keiner klingt wie Phillip Boa & The Voodooclub. Bis 1993 – danach vielleicht auch nicht. Ich bin nun einmal definitiv eine der besten deutschen Bands, das ist nun einmal so.“
Was für ein schöner Abschlusssatz. Das neue Selbstbewusstsein steht ihm. Folgen wir – der verschworene Clan – unserem Meister weiter auf konspirativen Wegen, durch Täler der Angst und über Berge des Größenwahns bis dann am Ende dieser musikalischen Odyssee der letzte magische Vorhang fällt. And when the magic fades… Was dann? Wie auch immer. Boa soll leben, dreimal hoch!
Daniel Jahn, Oktober 2006 Text + Foto © 2006 DANIEL JAHN (daniel@medienkonverter.de)
jawohl!
Herrn Boa´s letzter Satz: Wahr, wie wahr. Ich verstehe seit Jahren nicht, warum das keiner merkt. Größenwahn ist doch wie überdurchschnittlichen Selbstvertrauen und Eile mit Weile. Die Großzahl der Leute beginnt bei paar Millionen im Jackpott größenwahnsinnig zu werden. Der Boa eben schon mit dem Stipendium (nur ´ne Vermutung).
Cool! So lieben wir ihn!
Etwas Zeitdruck von Motor kann nicht schaden 😉
Aber bei der Malta-Kiste hätte ich nachgehakt. Warum hat er mit der Insel abgeschlossen?
Zum Thema Malta gibt’s kein Kommentar von Boa, aber wenn ich ihn richtig verstanden habe, will er bald selbst ein paar Zeilen zur Aufklärung dessen formulieren.
Da muss ich ja echt schmunzeln, dass dem Phillip endlich selbst mal wieder klar geworden ist, was er für ein Genius ist.
Und ein bischen stolz bin ich auch, dass ich das schon seit 1986 weiss.
Ein paar Dinge sind eben wirklich zeitlos und groß!
JAWOLL! Und jetzt gibt’s mal wieder ne ordentlich krachende Ruhrpott-Platte!